Die weißen Lilien ließen schon langsam ihre Köpfe hängen. Ihre großen, graziösen Blüten wurden langsam durch die Gravitation nach unten gezogen, sodass es fast so aussah, als würden sie den Anlass ihrer Ausstellung verstehen und sich respektvoll vor den Angehörigen verneigen, um ihnen ihr Beileid auszusprechen. Eigentlich mochte sie Lilien. Ihren Anmut, ihre Perfektion mit der jedes Detail ihrer gewaltigen Blüte ausgearbeitet war. Die Selbstverständlichkeit mit der sie ihre Schönheit zur Schau stellten, fast schon arrogant und überheblich. Die Feinheit und Detailtreue mit der jedes einzelne Blütenblatt mit Tausenden von schwarzen Punkten überzogen war, so als hätte der liebe Gott mit einem sehr feine Pinsel mühevoll jeden einzelnen aufgetragen. Doch ihre Schönheit, ihr Anmut und ihre Grazie waren vergänglich. Schon jetzt ließen sie langsam ihre gewaltigen Köpfe hängen, signalisierten, dass mit ihrem Dasein zu Ende ging. Schon morgen würden sie in den Abfalltonnen hinter der Kirche liegen, wo niemand sie auch nur noch eines Blickes würdigen würde. So war das Leben, nichts bleibt wie es ist, kam es ihr in den Sinn, bevor sie durch die Stimme des Pfarrers aus ihren Gedanken gerissen wurde.

Keuchend blieb er stehen. Er konnte sich nicht erinnern wie lange er gelaufen war. Sein T-shirt war durchnässt und verschwitzt. Der Regen hatte ihn nicht gestört. Er war eher eine willkommene Abkühlung, der ihn auf seinem Weg begleitet hatte und hoffnungslos versuchte die hitzigen Gedanken abzukühlen. Wo war er? Er musste weit gelaufen sein, denn diese Straße erkannte er nicht wieder. Automatisiert, ohne nachzudenken, einen Schritt vor den anderen. Nicht stehen bleiben bis die Erschöpfung ihn schließlich eingeholt hatte und der Schmerz das Rennen gewann. Tränen strömten seine Wangen hinunter, vermischten sich mit den Regentropfen die auf sein Gesicht prasselten und in langen Linien sein Kinn herunterliefen. Sein Leben war in dieser Wohnung gewesen. Sie war sein Leben. Gewesen. Wie konnte er jemals dorthin zurückkehren wo er noch vor einer Stunde gelebt hatte, sich aber nun wie ein Fremder fühlte? Fremd in den eigenen vier Wänden, in denen zahlreiche Bilder die Wände zierten und ihr gemeinsames Leben wie ein Buch dokumentierten. Er dachte immer, dass das was sie hätten, wäre einzigartig; besonders. Sie wäre einzigartig, besonders. Jetzt musste er feststellen, dass er sie anscheinend nicht kannte. Ein Mensch mit dem er neun Jahre zusammengelebt, seine Ängste, Träume und Hoffnungen geteilt hatte, war innerhalb weniger Minuten eine Fremde geworden. Warum? Diese Frage stieg ihm unaufhaltsam in den Kopf, wieder und wieder, biss sich in sein Gehirn und verfolgte ihn wie ein Schatten als er sich langsam wieder in Bewegung setzte. Ziellos. Als wäre er auf der Suche nach einer Antwort.

Dreiundzwanzig Kilo! Ihr ganzes Leben wog dreiundzwanzig Kilo, beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war. Ihr ganzes Leben passte in einen großen, schwarzen Koffer. Beim Anblick schüttelte sie unglaublich den Kopf und ließ mit einem Seufzer die Schnallen zufallen. Sie wollte alles zurücklassen. Ihre Wohnung, ihr Hab und Gut, ihr Leben. Am liebsten auch ihre Erinnerungen und die letzten paar Jahre, in denen sie lethargisch vor sich hin gelebt hatte. Eingefroren durch Emotionslosigkeit und ohne Zeitgefühl. Die Gedanken kreisten pausenlos um dieses eine Ereignis, welches ihr Leben veränderte, es tötete. Sie tötete. Sie wurde zum Roboter, der Dinge gedankenlos ausführte, weiter atmete und aß, aber nicht fühlte. Manchmal wünschte sie sich, sie hätte auch in diesem Auto gesessen. Hätte ihn begleitet, anstatt zu versprechen nachher ein Taxi nach Hause zu nehmen. Ein neues Leben. Ein neues Land. Ein neuer Anfang. So konnte es nicht weitergehen. Den graue Mantel, mit dem das Leben sie die letzten Jahre eingehüllt hatte, wollte sie hinter sich lassen. Den Kampf gegen das Leben in einem anderen Land wieder aufnehmen und diesen Kampf hier beenden. Versuchen zu akzeptieren, dass ihr Leben sich verändert hatte. Sie verändert hatte. Entschlossen nahm sie ihren Koffer von dem Rollbrett und ging langsam Richtung Ausgang. Der Sonne entgegen.

Leer. Nichts. Nicht einmal Reue fühlt er. Es tat gut seine Wut loszuwerden und die angestauten Aggressionen an der Person auszulassen, die für all das verantwortlich war. Langsam normalisierte sich sein Puls und die Atmung wurde ruhiger. Adrenalin, welches Minuten zuvor noch durch seinen Körper jagte und ihn beflügelte, zog sich langsam zurück und ließ ihn alleine mit seinen Gedanken, die es zuvor geschickt erstickt hatte. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich, sein Blick wurde langsam schärfer und nahm das Bild, welches sich im bot, wie eine Kamera blitzartig auf. Wie konnte er zu so etwas fähig sein? Zitternd sank er auf die Knie, die unter seinem Gewicht wie Butter zusammensackte, als könnten sie die Schuldgefühle, das Entsetzen, welches sich in ihm ausbreitete nicht mehr tragen und mussten dem Gewicht nachgeben. Die Bilder, die er im Augenblick des Geschehens nicht wahrgenommen hatte, breiteten sich nun in seinem inneren Auge aus, klar und deutlich wie sein Spiegelbild und brannten sich auf seine Netzhaut. Nie wieder würde er das vergessen! Sie blickte ihn an, mit weit aufgerissenen Augen, ohne ein Wort zu sagen. Entsetzen und Angst, vermischt in einen Blick war das letzte was er von ihr wahrnahm, bevor er eine Entscheidung traf mit der ihre Wohnung, ihr Leben, endgültig auslöschte.

Hätte er gewusst, dass dieser Tag sein letzter sein sollte, hätte er einiges anders gemacht. Es war ein Tag wie jeder andere auch. Ein Tag voller Hektik, Stress und Eile. Hätte er es gewusst, hätte er sich Zeit für ein gemeinsames Frühstück genommen, anstatt früher als gewohnt ins Büro zu fahren um das anstehende Meeting vorzubereiten. Er hätte ihr die Zeitung vorgelesen, bis sie beide hitzig über ein Thema diskutiert hätten, über das sie verschiedene Meinungen gehabt hätten. Sie hätte dabei wild mit den Händen in der Luft gestikuliert, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, was ihn zum Lachen brächte und sie, nachdem sie  verärgert die Mundwinkel nach unten zog, laut mit einstimmte. Das wäre ein perfekter Morgen gewesen. Er hätte nicht versucht etwas zu ändern, denn das Schicksal konnte man nicht austricksen. Er hätte nur versucht das beste aus diesem Tag zu machen. Er hätte dem Taxifahrer mehr Trinkgeld gegeben, seine Mutter zurückgerufen, als er in Hektik den Rückruf auf den nächsten Tag verschob und er hätte ihr gesagt, dass er sie liebte. Mehr als einmal. Er hätte gesagt, dass alles was er wollte war sie glücklich zu sehen. Auch wenn er einmal nicht mehr da war. Daraufhin hätte sie gelacht und so etwas geantwortet wie „so schnell wirst du mich nicht los“, ohne auch nur zu ahnen, dass genau dies schneller eintreffen würde, als sie vermuten könnte. Das letzte an das er dachte, war ihr Gesicht, welches in lächelnd ansah, bevor das Auto sich überschlug und mit einem fürchterlichen Knall im Graben aufprallte.

Dies sollte das letzte Mal sein. Endgültig. Morgen würde sie es beenden und es würde alles wieder so werden wie früher. Sie würde wieder glücklich sein mit diesem Mann, mit dem sie seit neun Jahren die Wohnung teilte. Den sie liebte und mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.  Doch irgendetwas störte sie. Musste sie stören, sonst hätte sie es nie so weit kommen lassen. Oder? Sie redete sich ein, dass sie diese Erfahrung brauchte. Die Aufmerksamkeit, die in der langen Beziehung manchmal auf der Strecke blieb, die Leidenschaft, den Nervenkitzel. Sie wollte ihn nicht verlassen. Nein, das wollte sie nicht. Was sie wollte war ein kurzes Abenteuer. Etwas, dass die Panik stillte, die sich in ihr ausbreitete seitdem er sie auf Knien bat, seine Frau zu werden. Sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als diesen einen Moment. Fünf lange Jahre hatte sie darauf gewartet. Doch jetzt, wo dieser Moment greifbar war, serviert auf einem Silbertablett, überkamen sie Zweifel. Sie hatte einen unglaublichen Durst. Durst nach dem Leben. Nach Abenteuern, fremden Ländern und Kulturen. Nach der Freiheit. Einen Durst, den sie versuchte zu verdrängen, doch der sie vor einigen Wochen überkam und seitdem nur noch größer wurde. Sie musste damit aufhören, das wusste sie und sie würde es. Nicht heute. Aber morgen. Vielleicht.

Hätte sie gewusste, dass es das letzte Mal war, dass sie ihn sah, hätte sie einiges anders gemacht. Sie hätte ihm nicht vorgeworfen, dass er zu viel arbeitete als er schon früher nach Hause fuhr und sie mit ihren Freuden zurückließ. Sie hätte ihn nicht verärgert angesehen und seine entschuldigenden Worte abgewunken. Sie hätte zugehört, sich aufmuntern lassen und wäre der Einladung gefolgt, am nächsten Tag gemeinsam zu Mittag zu essen. Auch wenn sie in diesem Moment nicht wusste, dass es kein Morgen geben würde. Nicht für ihn. Sie hätte ihm einen letzten Kuss gegeben. Einen Kuss, an den sie sich ihr ganzes Leben zurückerinnern konnte. Ein Abschiedskuss. Für immer.

Er hatte nicht zurückkehren wollen. Nicht heute. Nicht morgen. Nie wieder! Doch nachdem er stundenlang durch die Stadt geirrt war, ohne zu wissen wohin es ihn trieb, war er schließlich vor dieser Tür gelandet. Sein Leben war in dieser Wohnung! Er musste zurückkehren, auch wenn er nicht wollte. Langsam und schwerfällig stieg er die Treppen hinauf und hoffte, als er den Schlüssel ins Schloss steckte, dass sie nicht da sein würde.

Es war Zeit ihn abzunehmen. Der kleine goldene Gegenstand war das letzte was sie an ihn erinnerte und was sie seit Jahren nicht abgenommen hatte. Er gehörte zu ihr wie ein Körperteil. Als wäre er angewachsen, vereinte er all ihre Erinnerungen an ihn und die gemeinsame Zeit. Doch ein neues Leben erforderte das alte zurückzulassen, mitsamt allen materiellen Gegenständen. Vorsichtig streifte sie den Ring von ihrem Finger und legte ihn in ihre Handfläche. In der Innenseite war etwas eingraviert, was sie lächeln ließ. Anstatt des Datums ihrer Hochzeit hatten sie einen Spruch gewählt, der nicht einem typischen Eheversprechen klang, den sie aber gerade deswegen wo sehr liebte. You rock my life, flüsterte sie leise. Und so wird es auch immer bleiben, dachte sie, als sie den Ring in ihrer Brusttasche verschwinden ließ und sich in den Flugzeugsitz zurücklehnte.

Er wusste es. Als sie hörte wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, hatte sie ein mulmiges Gefühl. Er war später zurück als sonst, erwartet hatte sie ihn schon vor ein paar Stunden. Als sich ihre Blicke trafen, musste er nichts sagen. Zu gut kannte sie seinen Blick, konnte seine Gedanken lesen auch ohne Worte, als hätte sie ihn jahrelang studiert. Sie weinte nicht. Sie ging auf ihn zu, um ihm die Sache zu erklären. Doch gab es dafür eine Erklärung? Einen Menschen zu hintergehen, den man liebt? Alles was sie sagte, prallte an ihm ab als trüge er einen Panzer und seine Augen mieden die ihren, als wäre sie eine Aussätzige. Vielleicht war sie das. Sie fühlte sich schuldig und schmutzig, rechtfertigte und erklärte sich hitzig. Redete und redete, aus Angst vor der Stille. Doch er ging nicht auf sie ein und packte wortlos seine Tasche. Zu welchem Zeitpunkt die Situation eskalierte, wusste sie nicht mehr. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie gesagt hatte, was seinen Blick veränderte. Zum ersten Mal sah er ihr direkt in die Augen. Sie las Wut und Hass, Enttäuschung und Schmerz. Wie hypnotisiert ging er auf sie zu, den Blick nicht von ihr gerichtet, als würde er sonst das Gleichgewicht verlieren. Langsam stieg Angst in ihr auf. Dieser Blick hatte etwas an sich, vor dem sie sich fürchtete, was sie die ganzen Jahre über noch nie gesehen hatte. Sie ging einen Schritt zurück, taumelte und ihre Wahrnehmung wurde blasser und blasser. Wie die Ringe auf der Wasseroberfläche eines Sees, in den ein Stein geworfen wurde.

Er saß in einer der hinteren Reihen, konnte das Geschehen jedoch gut erkennen. Das Bild, das sie ausgewählt hatten, hatte er geschossen. Beim gemeinsamen Urlaub vor vier Jahren. Sie lächelte so glücklich in die Kamera, dass er für einen Moment vergaß, dass er derjenige war der ihr das Lächeln nahm. Es war ein Unfall, teilte er der Polizei einige Wochen später mit, als er sich stellte. Er habe das alles nicht gewollt und nur aus Panik versucht die Spuren zu verwischen. Er sei vorher noch nie gewalttätig gegenüber ihr gewesen. Er habe sie geliebt. Die Handschellen erschwerten das Blättern im Gesangbuch, als der Pfarrer auf das nächste Lied verwies. Er hatte diesen Abend verdrängt. Seine Erinnerungen daran waren ausgelöscht. Ausgelöscht wie ihr Leben. Als hätte sein Gehirn es ebenso wenig wahrhaben wollen wie er und das Beweismittel vernichtet. Er würde seine Strafe bekommen. Doch die größte Strafe war das Leben ohne sie und die unglaublichen Schuldgefühle mit denen er fortan leben musste. Die Blumen, die neben ihrem Foto standen, schienen ihm unangebracht. Sie waren prächtig und weiß. Verkörperten Unschuld und Perfektion. Sie erinnerten ihn an das Paradies. Nichts, was jemals auf ihn warten würde.

Copyright bei Wortverliebt 13. Juli 2011

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3 Responses to A Valediction: Farewell Darling

  1. EinfachD sagt:

    @wortverliebt -Schöne Kurzgeschichte, man merkt du schreibst öfters.

  2. EinfachD sagt:

    bist aber neu hier oder?

  3. Anna sagt:

    Entschuldige meine späte Antwort!Ich habe die Kommentare bisher nicht entdeckt und war eine Zeit lang im Ausland!Vielen Dank für das Kompliment!Das freut mich zu hören, dass Dir meine Geschichte gefällt!Kann ich von Dir auch etwas lesen?Liebe Grüße!

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