Wiener Cafehaus

Kurzgeschichte: In einem Wiener Cafehaus...

Willkommen bei blankespapier, Herr Glavitza. Ihnen und auch den anderen Schreibern ein frohes und ergiebiges Jahr 2012 mit vielen neuen Ideen literarischer Natur!

Ich weiß nicht, gnädige Frau, hatte ich es heute schon mal erwähnt? Ich lerne ab morgen singen. Es muss im Wintergarten des Cafe Landtmans neben dem Wiener Burgtheater gewesen sein, als mir bei einem Großen Braunen und einer Buttersemmel, ausdrücklich mit Butter dünn bestrichen, ich erwähne das deshalb, weil die nur mangelhaft ausgebildeten Kellner einfach nicht mehr in der Lage sind, meine Order ordnungsgemäß an die Küche weiterzugeben und dort – ach, sie kennen doch die Probleme heutzutage im Gastgewerbe, nirgendwo gibt es noch adäquates Personal, niemand will heutzutage mehr in den so genannten Dienstleistungsbetrieben als so genannter Dienstleister arbeiten! Jeder will heutzutage möglichst viel verdienen – aber nur wenig dazu leisten. Jeder steht unter dem Joch der Raffgier – mehr, mehr – sie können ihren Hals nicht vollkriegen, diese Leute, wie schon meine Mutter immer wieder sagte.

Er richtet sich auf, reckt den rechten Arm steil nach oben und richtet dabei den Zeigefinger gegen den Himmel

Niemand will mehr etwas leisten, schöpferisch tätig sein. Dabei ist gerade die Herstellung einer Buttersemmel, einer einfachen, simplen Buttersemmel, so einfach, Herrgottnocheinmal! Man will doch nicht mehr vom Leben. Nur eine Buttersemmel! Jawohl, gnädige Frau, eine einfache Buttersemmel. Mehr nicht. Und was bekommt man – natürlich mit Verspätung? Lange nachdem der Große Braune serviert war – und man in der Zwischenzeit den Großen Braunen bereits ausgetrunken hatte? Ja, und was bekommt man mit großer Verspätung, gnädige Frau? Eine unaufgeschnittene Semmel und ein steinhart gefrorenes Stück Butter! Daneben, natürlich lieblos am Teller ein stumpfes Messer, sogar ohne auch nur einer Spur einer Sägeverzahnung an der Schneide. Ich frug neulich den Kellner, warum er mir nicht gleich zur Semmel ein Meißl lieferte? Er blickte mich naturgemäß blöde an – ja, gnädige Frau, der gute Mann hatte mich in Wahrheit gar nicht verstanden. Wie soll er mich auch verstehen? Ein eben erst zugezogener Schafhirte aus dem albanischen Hochland kann einen nicht verstehen und von einer Buttersemmel kann er doch überhaupt gar keine Ahnung haben.

Der Herr, winkt mit seiner Hand ab, lacht dabei laut auf, lehnt sich zurück und atmet tief ein und dann aus. Einerseits klingt es wie das Pfeifen eines kochenden Teekessels, andererseits wie das Seufzen eines Walrosses.

Ja ja, die Buttersemmel! Dabei ist es doch so einfach! Ich versteh das nicht. Lernen die jungen Köche heutzutage nicht mehr, wie man eine Buttersemmel macht? Stell´n sie sich folgenden Skandal vor! Es muss drei oder vier Jahre her sein, als ich das letzte Mal im Cafe Sacher war. An einem sonnigen Nachmittag, nach einem Spaziergang von „Am Hof“ kommend, vorbei am „Kameel“, dann am Graben ein Blick in die Auslagen beim Hübner, ob schon die neuen Longines da wären – ich bin ein Liebhaber von Longines Uhren, müssen sie wissen, gnädige Frau – habe sogar eine kleine Sammlung zu Hause, muss ich gestehen, dann an der Ecke beim „Stock im Eisen“ nach rechts in die Kärntnerstraße zum „Prachner“ und schmökerte dort in der neuesten Sekundärliteratur über Gerhard Fritsch. Ein Autor übrigens, den ich ihnen gnädige Frau, nur dringest empfehlen kann. Einer der bedeutendsten Dramatiker dieses Landes. Tja, dann natürlich ein Sprung in den EMI-Plattenladen – Keith Jarrett hat Mozarts Klavierkonzerte eingespielt. Also das Adagio im Köchelverzeichnis vierhundertsechsundsechzig, gnädige Frau – also das Adagio! Einfach großartig! Kennen sie das Adagio – Köchelverzeichnis vierhundertsechsundsechzig – oder das grandiose Adagio aus dem Köchelverzeichnis vierhundertsiebenundsechzig?

Er beugt sich nach vor zu ihr, runzelt die Stirn, presst die Lippen aufeinander und nickt mehrmals.

Ja, und dann weiter zum Sacher. Und nun – gnädige Frau, und nun – ich war natürlich von diesem langen Spaziergang erschöpft und wollte nun bei einem Einspänner und einem Butterbrot mit Schnittlauch zur Ruhe kommen. Ich bestellte also – ja, ich bestellte sogar bei meinem Lieblingskellner, das Butterbrot mit Schnittlauch! Das war ja gerade der Skandal! Und was bekomme ich? Und was bekomme ich, gnädige Frau? Was bekomme ich? Einen Anschnitt! Einen alten, harten Anschnitt! Ich hab dem Kellner nichts gesagt, hab das Brot still und bescheiden, in mich gekehrt runter gegessen, bezahlt – natürlich nur wenig Trinkgeld gegeben und bin gegangen. Seit dieser Katastrophe hab ich mir jeden Besuch, ja, sogar jedes Denken an das Cafe Sacher, an das früher von mir so geliebte Cafe Sacher, verboten!

Der Herr lehnt sich wieder zurück. Sichtlich erschöpft von seiner Erzählung und nickt mehrmals stumm vor sich hin.

Und erst neulich, sie werden es nicht glauben, habe ich beschlossen das Singen zu erlernen. Am Nebentisch im Wintergarten des Cafe Landtmans saß ein Mann und las im „Standard“. Ich beobachtete ihn eine Weile. Da ich vor ihm den „Standard“ gelesen hatte, wusste ich genau welche Artikel er gerade las. Ich beobachtete genau seine Reaktionen. Wie er seine Stirne runzelte, dann wieder entspannte. Seinen Kopf interessiert nach vor beugte, dann wieder desinteressiert zurücklehnte, still den Kopf schüttelte und so fort und so weiter. Seine ablehnenden Gesichtszüge, als er über unsere Politschwadroneure und Glücksritter im Parlament las, über die korrupten Banditen in der Ruprik Auslandpolitik. Rasch den Lokalteil einfach überblätterte, dann bei den Seiten des Wirtschaftsteils den Kopf schüttelte. Wahrscheinlich hatte er wie ich bei diesem Thema an Brecht gedacht, der sagte: Was ist schon ein Banküberfall gegen die Gründung einer Bank! Hahahaha!

Er lacht laut auf und blickt sich um, ob noch jemand sein Lachen mitbekommen hatte.

Ich beobachtete ihn noch ganz genau, als er auf dem Kulturteil landete. Minutenlang studierte er den Artikel über Brendels Interpretation der „Goldberg Variationen“. Nahezu ebenso lang studierte er die Kritik über Gerd Voss „King Lear“ im Burgtheater. Und ich spürte förmlich seine Zustimmung zur Meinung des Kritikers, denn auch ich fand, dass Voss den „Lear“ etwas überspielte – und auch sprachphonetisch nicht absolut fehlerlos war. Voss ist eben auch nicht mehr der Voss der frühen Peyman Jahre! In letzter Zeit überspielt er nur noch! Überspielt seine Fehler. Sein Nachgeben gegenüber seinem Alter – aber auch seiner eigenen Überschätzung, Größenwahn, wie alle großen Mimen, nachdem sie älter geworden sind und der Selbstherrlichkeit anheim fallen! Tja, gnädige Frau, wir alle sind nicht mehr wir der früheren Jahre. Auch wir fallen der eigenen Korruption zu Opfer. Korrumpieren uns im eigenen Größenwahn, suhlen uns in Zufriedenheit und sind längst nicht mehr der kritische Geist, der wir einst waren. Und keine Stunde – ja, keine Minute, Sekunde versäumten wir damals, um an unserer Kunst zu arbeiten, immer wieder dieselben Sätze deklamierend, an kleinen und kleinsten Details feilend – und auch mit dem Meisterwerk, trotz tosenden Beifalls und so genannter „standing ovations“, uns niemals zufrieden gaben. Gleich nach der Vorstellung uns wieder in unser Kellerverließ zurückzogen, um an unserer Kunst zu arbeiten – um dem Dilletantismus zu fliehen! Das war es, gnädige Frau! Allein, das war es!

Der Herr nickt stumm vor sich hin. Richtet sich dann wieder auf und sagt dann weiter

Und wie ich diesen Herrn am Nachbartisch so beobachte, fallen mir seine Ohren auf. Und denke: Ja natürlich, diese Ohren! Und blicke mich im Wintergarten des Cafe Landtmans um und zähle so an die siebzehn Menschen, die sich ebenso wie ich im Wintergarten entspannten, von den Strapazen des Lebens erholten und dachte, jeder dieser siebzehn Menschen besitze Ohren. Das heißt, dass jetzt hier im Wintergarten des Cafe Landtmans grob gerechnet ungefähr vierunddreißig Ohren wären. Und extrapoliere meine Überlegungen auf die Stadt Wien. Zweieinhalb Millionen Menschen. Das ergäbe doch fünf Millionen Ohren! Möglicherweise lebten hier einige mit abgeschnittenen Ohren oder überhaupt so genannten ohrenlosen Köpfen. Diese Zahl wäre aber eher zu vernachlässigen, wie ich dachte und sagte mir, dass es in Wien sicherlich so zwischen vier Millionen und siebenhunderttausend und fünf Millionen Ohren geben müsste. Mehr als fünf Millionen sicher nicht, da es mit größter Wahrscheinlichkeit kaum Köpfe mit drei Ohren gäbe. Auf das ganze Land gerechnet, kam ich sogar auf rund fünfzehn Millionen Ohren. Und dann – ja, dann, gnädige Frau, extrapolierte ich die gesamte Welt auf die mögliche Menge der Ohren und kam auf – ja, ich kam auf – stellen sie sich vor, gnädige Frau – ich kam auf – ungefähr hochgerechnet natürlich, auf vierzehn Milliarden Ohren, gnädige Frau!  Vierzehn Milliarden! Stellen sie sich das einmal vor, gnädige Frau. Vierzehn Milliarden!

Der Herr richtete sich auf und reckte den rechten Arm und den Zeigefinger steil gegen den Himmel und wiederholte mit lauter Stimme

Vierzehn Milliarden Ohren! Vielleicht um eine Spur weniger – abgeschnittene Ohren, Missgeburten und so weiter, sie wissen schon, gnädige Frau. Und da sagte ich mir –

Er atmet wieder tief ein und aus, nickt mehrmals stumm und spricht erst nach einer längeren Pause weiter

… sagte ich mir: Julius, du musst singen lernen! Vierzehn Milliarden Ohren – vierzehn Milliarden Ohren wollen dich singen hören!

© Erich Glavitza, Januar 2012

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